In den letzten fünf Jahren hat sich die Einstellung zum Thema Kohlenstoff grundlegend geändert. Zweifellos führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass die steigende Konzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre eine existenzielle Bedrohung für das Leben auf der Erde darstellt. Gleichzeitig ist Kohlenstoff aber auch der Hauptbestandteil unserer Nahrung, die Grundlage aller organischen Chemikalien und Kunststoffe und das Rückgrat des Lebens auf der Erde.
Wenn es um das Thema Kohlenstoff geht, liegt der Schwerpunkt in der Regel und seit langem darauf, ein möglichst kohlenstofffreies, dekarbonisiertes Energiesystem zu entwickeln, um CO2-Emissionen zu vermeiden. Dies ist auch weiterhin entscheidend und tatsächlich dringender denn je, um bis 2050 die Nettoemissionen auf null zu reduzieren. Es wird jedoch immer deutlicher, dass andere große Sektoren, wie beispielsweise Lebens- und Futtermittel, aber auch die gesamte organische Chemie, Kunststoffe und bedeutende Teile des Materialsektors, grundlegend und in zunehmendem Maße von Kohlenstoff abhängig sind. Vor allem in der Chemie- und Kunststoffbranche sind heutzutage immer noch fast 90% des Kohlenstoffs, der als Ausgangsmaterial verwendet wird, fossiler Kohlenstoff. Dieser fossile Kohlenstoff muss bis 2050 durch erneuerbaren Kohlenstoff aus Recycling, Biomasse und CO2 ersetzt werden, um einen weiteren Zustrom von fossilem Kohlenstoff in unsere Technosphäre und Atmosphäre zu vermeiden.
Die Politik spricht heute von „nachhaltigen Kohlenstoffkreisläufen“, „Defossilisierung“ und vor allem von „Kohlenstoffmanagement“: Welche Sektoren sollen in Zukunft aus welchen Kohlenstoffquellen versorgt werden? Um solche komplexen Fragen zu beantworten und realistische Ziele und Strategien zu entwickeln, fehlte bisher eine belastbare und umfassende Datenbasis über die Kohlenstoffflüsse aller Sektoren, sowohl global als auch in Europa.
Die Renewable Carbon Initiative (RCI) hat eine Studie beim nova-Institut in Auftrag gegeben, um diese Lücke so gut wie möglich zu schließen. Sie baut auf der langjährigen Arbeit des nova-Instituts zu Biomasse- und Kohlenstoffflüssen der letzten 10 Jahre auf und hebt sie auf die nächste Stufe. Das Ergebnis ist eine umfassende, detaillierte und aktualisierte Datengrundlage über Kohlenstoffflüsse, die vorherige Veröffentlichungen deutlich übertrifft. Alle Daten wurden so gut wie möglich durch wissenschaftliche Veröffentlichungen, Rückmeldungen von Sachverständigen und zusätzliche Forschungsarbeiten untermauert. Verbleibende Lücken und Unterschiede werden transparent dargestellt und ausführlich erläutert.
Die nova-Experten und Expertinnen haben Daten aus einer Vielzahl von Quellen ausgewertet. Für die Erstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme der Kohlenstoffvorräte und -flüsse wird eine breite Palette von Daten über Materialflüsse verwendet. Zu den erfassten Sektoren gehören alle Anwendungen organischen Kohlenstoffs aus fossilen Ressourcen und aus der Biomasseproduktion, von den Rohstoffen über die Nutzung bis hin zum Ende des Lebenszyklus. Dies umfasst auch die Verwendung von Kohlenstoff für Futter- und Nahrungsmittel, Materialien, Energie und Kraftstoffe. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem heutigen und zukünftigen Kohlenstoffbedarf der Chemie- und Kunststoffindustrie, so dass mehrere Darstellungen speziell auf diesen Sektor zugeschnitten sind und Szenarien für eine vollständige Defossilisierung des Sektors bis 2050 enthalten.
Falls Sie frühere Berichte über Kohlenstoffflüsse und -anteile gelesen haben, werden Sie in diesem neuen Bericht eine Reihe von Daten finden, die sich von früheren Veröffentlichungen – unseren eigenen oder denen anderer Autoren – unterscheiden. So ist beispielsweise der Anteil der Biomasse an den chemischen Rohstoffen geringer als in früheren Veröffentlichungen. Die Zahlen haben sich vor allem deshalb verändert, weil nova-Expertinnen und Experten besonders tiefe Einblicke in die Daten gewinnen konnten und weil wir viele Expertinnen, Experten und Verbände um Input und Feedback gebeten haben – ermöglicht dank des finanziellen Budgets der Renewable Carbon Initiative (RCI). Ein zentrales Ziel war es, eine möglichst einheitliche und transparente Datenbasis zu schaffen, die dann von Wirtschaft, Verbänden und Politik gleichermaßen genutzt und weitergegeben werden kann.
Der Bericht über die Kohlenstoffflüsse ist als lebendiges Dokument konzipiert, das wir nach Möglichkeit alle ein bis zwei Jahre aktualisieren möchten. Das bedeutet auch, dass wir uns auf Ihr Feedback, zusätzlichen Input, neue Daten und Vorschläge von allen interessierten Parteien freuen. Bitte wenden Sie sich dazu direkt an den Hauptautor der Studie: [email protected]
Der Bericht umfasst insgesamt 80 Seiten mit mehr als 35 Grafiken und Tabellen sowie dazugehörige Beschreibungen der Methodik, des Quellenmaterials und der Daten sowie fünf Seiten mit Literaturquellen. Das Format des Berichts ermöglicht eine einfache Präsentation der Grafiken für jedes Publikum.Sie können den vollständigen Bericht einschließlich aller Abbildungen hier kostenlos herunterladen: https://renewable-carbon.eu/publications/product/the-renewable-carbon-initiatives-carbon-flows-report-pdf/
Die RCI hat eine Studie beim nova-Institut in Auftrag gegeben, um eine umfassende Bestandsaufnahme der Kohlenstoffbestände und -flüsse zu erstellen. Alle bei Wirtschaftstätigkeiten verwendeten Quellen organischen Kohlenstoffs und alle Sektoren, in denen Ressourcen genutzt werden, die organischen Kohlenstoff enthalten, werden erfasst. Zu den Kohlenstoffquellen gehören die fossilen Ressourcen Öl, Gas und Kohle sowie die erneuerbaren Kohlenstoffquellen Biomasse, Recycling und CO₂, sofern sie bereits genutzt werden. Dem Bericht zufolge liegt der Anteil des fossilen Kohlenstoffs bei 63%, während Biomasse 35% und Recycling 2% zum gesamten weltweiten Angebot an organischem Kohlenstoff beitragen. In Europa ist der fossile Anteil mit 67% sogar noch höher. Zu den Sektoren, die auf organischen Kohlenstoff angewiesen sind, gehören Lebens- und Futtermittel, der Material- und Chemiesektor sowie Energie und Verkehr. Der Bericht enthält Daten zu den Materialflüssen in all diesen Sektoren und ermittelt die entsprechenden Kohlenstoffflüsse.
Kohlenstoff kann auf grundlegend unterschiedliche Weise verwendet werden. Einerseits wird er als Energieträger verwendet, wobei die in den Molekülen der Kohlenwasserstoffe gespeicherte Energie bei Verbrennungsprozessen zur Stromerzeugung oder als Kraftstoff für den Verkehr freigesetzt wird. Andererseits gibt es Anwendungen, bei denen Kohlenstoff als wesentlicher Bestandteil in das Endprodukt eingebettet ist. Dazu gehören Lebens- und Futtermittel sowie der Material- und Chemiesektor, wo Kohlenwasserstoffe verwendet oder in oft komplexe chemische Moleküle umgewandelt werden. Der kohlenstoffbasierte Materialsektor umfasst Holz für den Bau und Möbel, Papier, Baumwolle für Textilien sowie fossilen und erneuerbaren Kohlenstoff für eine breite Palette von Chemikalien und Kunststoffen.
Während der Energie- und Verkehrssektor durch den Einsatz von erneuerbaren Energien, Elektrifizierung und Wasserstoff dekarbonisiert werden kann und sollte, ist Kohlenstoff in Lebensmitteln und Materialanwendungen nicht zu ersetzen. Der Materialsektor kann nur defossilisiert, d.h. von fossilen auf erneuerbare Kohlenstoffquellen umgestellt werden. In dem Bericht wird der heutige Anteil an erneuerbarem Kohlenstoff, der in Werkstoffen und Chemikalien enthalten ist, auf einen bemerkenswert hohen Wert von 48% (37% aus primärer Biomasse, 11% aus Recycling) auf globaler Ebene und 44% auf europäischer Ebene berechnet (siehe Abbildung 1 und 2). Bei der stofflichen Nutzung von erneuerbarem Kohlenstoff liegt der dominante Anteil des Bedarfs bei Holz für den Bau und Möbel sowie Zellstoff und Papier. Diese beiden Sektoren sind groß und nutzen erhebliche Mengen an Kohlenstoff in Form von primärer Biomasse, aber auch einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an recycelten biobasierten Produkten. Die chemische Industrie verwendet bisher nur geringe Anteile an biogenem Kohlenstoff und Kohlenstoff aus dem Recycling (6 und 3% weltweit und 4 und 3% in der EU).
Mit einem Anteil von über 90% sowohl weltweit als auch in der EU ist die chemische Industrie nach wie vor stark von fossilem Kohlenstoff als Rohstoff abhängig. Im Vergleich zu anderen Statistiken ist diese Zahl überraschend hoch, aber in dem Bericht der RCI wird zum ersten Mal die Schwerölfraktion (hauptsächlich Bitumen) einbezogen – ein Anwendungsbereich, der bisher ausschließlich fossilen Kohlenstoff verbraucht hat.
In dem Bericht werden umfassende Darstellungen des derzeitigen Angebots an Kohlenstoff gezeichnet und für den Chemiesektor wird eine tiefgreifende Analyse durchgeführt. Neben dem in den Energieträgern enthaltenen Kohlenstoff, der in der chemischen Industrie verwendet wird, wird ein zusätzlicher jährlicher Bedarf von 710 Megatonnen Kohlenstoff (Mt C) berechnet, der als Rohstoff in den Chemikalien und Materialien gebunden ist. Der Teilsektor Chemikalien und daraus hergestellte Materialien verwendet derzeit zu 88% fossilen Kohlenstoff als Rohstoff.
Von diesem Punkt aus skizzieren die Autoren ein exploratives Szenario für 2050, das einerseits eine wachsende Nachfrage aufgrund des steigenden Verbrauchs von Chemikalien und Kunststoffen und des steigenden Bedarfs an Straßeninfrastruktur berücksichtigt. Andererseits basiert das Szenario auf einem vollständigen Ausstieg aus fossilen Rohstoffen und einen Umstieg auf erneuerbare Kohlenstoffquellen. Für Chemikalien und daraus hergestellten Materialien wird ein Anteil von 55% angenommen, der auf einem ambitionierten Ausbau sowohl des mechanischen als auch des chemischen Recyclings beruht. Aber Recycling allein kann den Kohlenstoffkreislauf nicht vollständig schließen, es muss zusätzlicher erneuerbarer Kohlenstoff in den Kohlenstoffkreislauf eingespeist werden. Im explorativen Szenario wird deshalb Biomasse benötigt, um die Nachfrage nach Chemikalien und Folgeprodukten zu decken, aber der Anteil ist aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von land- und forstwirtschaftlichen Flächen sowie des potentiellen Verlustes der biologischen Vielfalt auf 20% beschränkt. Der verbleibende Anteil von 25% wird durch Carbon Capture and Utilization (auf Deutsch: CO2-Abscheidung und -Nutzung, abgekürzt CCU) bereitgestellt, wobei CO2-Emissionen aus fossilen und biogenen Punktquellen sowie die direkte Abscheidung aus der Luft genutzt werden.
Die gesammelten Daten verdeutlichen auch die Abhängigkeit des Energie- und Verkehrssektors von fossilen Kohlenstoffquellen. Darüber hinaus können die Daten als Grundlage für den Ausstieg des Materialsektors aus fossilem Kohlenstoff verwendet werden, ein Prozess, der als Defossilisierung bezeichnet wird. Die Informationen können die Grundlage für die Gestaltung der künftigen Verteilung erneuerbarer Kohlenstoffquellen für die Sektoren Futter- und Lebensmittel, Werkstoffe und Chemikalien sowie Energie und Verkehr bilden: ein umfassendes Kohlenstoffmanagement in allen Sektoren.
Ferdinand Kähler
Experte für Nachhaltigkeit am nova-Institut
E-Mail: [email protected]
Die Renewable Carbon Initiative (RCI) wurde im September 2020 von elf führenden Unternehmen aus sechs Ländern unter Führung des deutschen nova-Instituts gegründet. Ziel der Initiative ist es, den Übergang von fossilem zu erneuerbarem Kohlenstoff für alle organischen Chemikalien und Materialien zu unterstützen und voranzutreiben.
In dem Bericht werden umfassende Darstellungen des derzeitigen Angebots an Kohlenstoff gezeichnet und für den Chemiesektor wird eine tiefgreifende Analyse durchgeführt. Neben dem in den Energieträgern enthaltenen Kohlenstoff, der in der chemischen Industrie verwendet wird, wird ein zusätzlicher jährlicher Bedarf von 710 Megatonnen Kohlenstoff (Mt C) berechnet, der als Rohstoff in den Chemikalien und Materialien gebunden ist. Der Teilsektor Chemikalien und daraus hergestellte Materialien verwendet derzeit zu 88% fossilen Kohlenstoff als Rohstoff.
Von diesem Punkt aus skizzieren die Autoren ein exploratives Szenario für 2050, das einerseits eine wachsende Nachfrage aufgrund des steigenden Verbrauchs von Chemikalien und Kunststoffen und des steigenden Bedarfs an Straßeninfrastruktur berücksichtigt. Andererseits basiert das Szenario auf einem vollständigen Ausstieg aus fossilen Rohstoffen und einen Umstieg auf erneuerbare Kohlenstoffquellen. Für Chemikalien und daraus hergestellten Materialien wird ein Anteil von 55% angenommen, der auf einem ambitionierten Ausbau sowohl des mechanischen als auch des chemischen Recyclings beruht. Aber Recycling allein kann den Kohlenstoffkreislauf nicht vollständig schließen, es muss zusätzlicher erneuerbarer Kohlenstoff in den Kohlenstoffkreislauf eingespeist werden. Im explorativen Szenario wird deshalb Biomasse benötigt, um die Nachfrage nach Chemikalien und Folgeprodukten zu decken, aber der Anteil ist aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit von land- und forstwirtschaftlichen Flächen sowie des potentiellen Verlustes der biologischen Vielfalt auf 20% beschränkt. Der verbleibende Anteil von 25% wird durch Carbon Capture and Utilization (auf Deutsch: CO2-Abscheidung und -Nutzung, abgekürzt CCU) bereitgestellt, wobei CO2-Emissionen aus fossilen und biogenen Punktquellen sowie die direkte Abscheidung aus der Luft genutzt werden.
Die Vervielfältigung der Grafiken sowie dieser Pressemitteilung in mehreren Sprachen sind kostenlos und downloadbar unter https://renewable-carbon-initiative.com/media/press/?id=417
Source:
Renewable Carbon Initiative, Pressemitteilung, 2023-03-16.